Eine Freiwillige berichtet von ihrem erlebnisreichen Jahr in den peruanischen Anden (Teil 3)

Eva Carbonero Happel verbrachte als Freiwillige ein Jahr in einem Altenheim in Cusco/ Peru. Am Ende der Zeit erstellt jeder Freiwillige einen Bericht über die soziale Arbeit, die Ereignisse – positive wie negative – und das Leben in einem anderen Land. Für Eva Carbonero Happel eine gute Gelegenheit, das Erlebte Revue passieren zu lassen.Ein Jahr ist wirklich regelrecht verflogen…Und es scheint so, als ob auch leider für mich dieses Sprichwort wahr wird: Man soll gehen, wenn’s am schönsten ist. Es war ein unheimlich spannendes, lehrreiches, manchmal natürlich auch ein etwas schwieriges Jahr. Wenn ich zurückblicke, dann habe ich in diesem Jahr viel gemacht: Küchenhelfer, Pfleger, Putzfrau, Zuhörer, Kellner, Metzger, Physiotherapeut, Bauer, Gesprächspartner u.v.m. Die Arbeit in einem Altenheim kann wesentlich vielfältiger sein, als man sie sich vorstellt, als ich sie mir am Anfang vorgestellt habe. Ich war am Anfang sehr kritisch: Soll ich echt ein Jahr ins Altenheim gehen? Kann ich das? Ich bin extrem froh, dass ich mich für „einfach mal versuchen“ entschieden habe. Bevor ich beginne: Es ist einfach unmöglich, so ein Jahr in einem Bericht auch nur ansatzweise vollständig zusammenzufassen. Aber hier kommt mein Versuch.

Wir haben so viele neue Leute und die Stadt kennengelernt, einen Quechua-Kurs absolviert, das erste Mal in einer WG mit Gleichaltrigen
gelebt. Und obwohl es für mich hier nicht mein erster Besuch war, war trotzdem alles ziemlich neu. Cusco ist einfach ganz anders als die Hauptstadt Lima, wesentlich traditioneller. Die bunten Märkte, die kleinen tiendas (Läden) an jeder Ecke, die in vielen Vierteln eher ärmlichen Lehmhäuser, die Frauen mit ihren Babys in Tüchern auf dem Rücken, die Busse, das ständige Verkehrschaos, die ständige Musikberieselung, die Feiern und Umzüge auf den Straßen, die entspannte Lebensweise, die Fröhlichkeit und Aufgeschlossenheit der
Menschen, die Essensstände mit Anticuchos (Rinderherzen am Spieß), Churros und frisch gepresstem Orangensaft, durch die man sich
nach Herzenslust durchfuttern kann. Dinge, die ich in Deutschland sehr vermissen werde.

Der Start im Altenheim lief nicht ganz so optimal. Wir wurden dort hingebracht und „abgeliefert“ nach dem Motto: Jetzt schaut mal und findet euch zurecht! Und dadurch, dass das Altenheim auch nicht direkt zur Fundación Cristo Vive gehört, wussten die Angestellten auch nicht so wirklich, dass wir kommen. Wir waren zwei von vielen Freiwilligen. Es kommen ganz oft welche für einen Monat, zwei Wochen, einen Tag oder auch nur ein oder zwei Stunden. Also lief das gefühlt nach dem Motto: Oh, schon wieder solche Freiwillige. Die kommen und
gehen doch eh, wann sie grade Lust haben. Warum sollten wir denen groß zeigen, wie das alles hier so läuft, die sind doch eh in ein paar Wochen wieder weg. Als sich dann herumgesprochen hatte, dass wir echt für ein Jahr hier sind und jeden Tag den ganzen Tag da sind, wurde es immer besser. Nach und nach hat man den ganzen Ablauf gezeigt und seine eigenen Aufgaben übertragen bekommen.

Die Stimmung ging bergauf. Wir haben bei den alltäglichen Aufgaben geholfen: Aufstehen und Anziehen, Füttern, sie nach draußen an ihren Lieblingsplatz bringen, beim Toilettengang helfen, Wäsche machen, den Essensraum wieder sauber machen, ins Bett bringen, sie in die Physiotherapie bringen, bei Bewegungsübungen und Massagen mithelfen, mit ihnen Ball spielen, einfach unterhalten, sie bespaßen etc. Man hat alle Omis und Opis nach und nach besser kennengelernt. Bis dann für mich persönlich der November meine Stimmung wieder ganz schön nach unten gezogen hat. Wegen Mitarbeiterwechsel und Personalmangel wurde ich quasi zur Putzhilfe im wahrsten Sinne des Wortes abkommandiert. Ich kam zwar jeden Tag zur Arbeit, aber eher widerwillig.

Zirka einen Monat später war das Personalproblem gelöst und es ging wieder steil bergauf: wesentlich mehr Zeit mit „meinen“ Omis und weniger Putzaufgaben. Das Verhältnis zu Opis und Omis und auch zu Kollegen wurde immer besser: Beim Arbeiten wurde Quatsch gemacht, sodass man sich vor Lachen nicht mehr eingekriegt hat, in der Freizeit wurde man zu Geburtstagen, Feiern, Ausflügen oder sogar zum Mittanzen in einer Tanzgruppe eingeladen. Langsam war ich nicht mehr nur mit Arbeiten und danach Ausruhen beschäftigt, sondern
habe auch die Kraft und Lust gefunden, danach noch etwas zu unternehmen. Mein neues Hobby ist Tischtennisspielen.

Fast jeden Wochentag gab es einen lockeren Treffpunkt, zu dem man kommen konnte, wenn man Zeit und Lust hatte. Das war ein Angebot von Acupari, der Sprachschule, die wir zu Anfang besuchten. Die gibt natürlich für Ausländer Spanisch- und Quechua- Kurse, aber vor allem eben Deutschkurse für Peruaner. Beim Tischtennisspielen waren eigentlich nur Peruaner, die dort vor oder nach ihrem täglichen Unterricht hingingen, worüber ich ganz froh war. Es waren immer die gleichen, mit denen man sich dann angefreundet hat, nach dem Spielen noch im Zentrum unterwegs war oder sich einfach unterhalten hat. So habe ich dort meinen Freundeskreis gefunden.

Allgemein ist hier alles wesentlich spontaner und entspannter. Während man sich in Deutschland für drei Minuten Zuspätkommen entschuldigt, war hier mein Rekord, über eine Stunde auf mein Gegenüber zu warten. Gut, diese Seite von „alles entspannter sehen“, kann natürlich auf die Nerven gehen. Während man in Deutschland lange im Voraus plant und sich seine „pasajes“, also Fahrtickets für die Bahn, schon weit im Voraus für viel Geld besorgen muss, hat man hier eine Idee: „Hey, wie wär’s, wenn wir übers Wochenende da und da hinfahren würden? Sind auch nur acht Stunden Fahrt. Willst du mit?“ „Ja klar, dann fahren wir heute Abend los.“ Seine Bustickets kauft man bei längeren Übernachtfahrten ein paar Stunden vorher, wenn es nur so vier Stunden Fahrt sind, geht man hin, zahlt ein paar Soles, steigt ein, wartet bis der Bus voll ist und es geht los. Keine Abfahrtszeiten oder im Voraus buchen.

Das hat zu sehr spontanen Wochenendausflügen mit Freunden und ungeplanten Urlauben geführt, was viel schöner war. Simon, mein Kollege, und ich haben das mit den Ausflügen manchmal auf die Spitze getrieben: Eben mal Freitagabend nach Ayacucho fahren, ist ja nur 14 Stunden weit weg. Am Samstag früh um 10 Uhr kommen wir dort an und müssen am Sonntag um 14 Uhr wieder los, um Montag früh um kurz vor 5 Uhr morgens, also rechtzeitig vor der Arbeit, in Cusco wieder anzukommen. Wir waren auch kaum müde! Solche Aktionen kann man nur hier bringen, in Deutschland wäre das schon bus-/bahnfahrtechnisch kaum möglich. Die Fernbusverbindungen sind hier wesentlich besser. Da kann die Deutsche Bahn nicht mithalten. Andererseits braucht man allerdings für 30 Kilometer eine gute Stunde, weil es nicht ansatzweise so etwas wie Autobahnen gibt. Und der Verkehr läuft sowieso nach dem Prinzip: Der Größere und Stärkere oder der, der am lautesten hupt, hat Vorfahrt. Manchmal ist es das pure Chaos und jeder schlängelt sich irgendwie durch. Bin ich froh, dass ich nicht fahren muss. Wäre sowieso komisch gewesen: Alle Autofahrerinnen, die ich das ganze Jahr über gesehen habe, kann man an einer Hand abzählen (Lima jetzt mal nicht mitgezählt). Allgemein ist diese extrem traditionelle Denkweise und Aufgabenteilung schon heftig. Die Gesellschaft ist eine unglaubliche Macho-Gesellschaft. Die Männer glauben, sie können sich gegenüber Frauen alles erlauben. Ein Taxifahrer hat mich einmal so offensiv angemacht, dass ich definitiv Angst hatte, nicht dort anzukommen, wo ich hinwollte. Da war ich im Auftrag des Altenheims mit drei blinden Omis und Opis zum Augenarzt unterwegs, die Nonne saß mit dem Rest leider im anderen Taxi. Naja, vielleicht hätte ich mir eine Krücke von den Opis zum Verprügeln ausleihen können. Und auch selbst im Altenheim musste man sich vor ein paar noch fitten Opis und Kollegen ziemlich in Acht nehmen. Wobei ich natürlich sagen muss, dass die große Mehrzahl der Kollegen und Opis absolut in Ordnung war. Auch bei Fällen von häuslicher Gewalt gegen Frauen steht Peru ziemlich weit oben. Von Nele und Marcia, die im Frauenhaus arbeiten, oder auch von einheimischen Kolleginnen habe ich mitbekommen, was hier als „normal“ angesehen wird. Ein krasser Unterschied zu Deutschland.

Ich sollte zurückkommen zur Arbeit an sich: Wenn die anstehenden Aufgaben erledigt waren, habe ich mich wahnsinnig gerne in die semanerías (Gesundenstationen) verabschiedet, um mich mit den Frauen und Männern zu unterhalten. Die Gespräche waren immer sehr schön, für beide Seiten.
Sie hatten endlich mal wieder einen Gesprächspartner und ich habe viele interessante Dinge erfahren: Von ihren früheren Tätigkeiten, vom Leben in den tiefsten ländlichen Regionen und von ihrem Leben allgemein.

Mit anderen waren die Gespräche auch nicht ganz so tiefsinnig und liefen teilweise in etwa so ab: „Apapááááá´!!!“ „Ay papá…“ „Apapá?“ „A papá!“ In der Krankenstation hat man sich einfach neben jemanden gesetzt, sich im Spaß gegenseitig geschlagen, worüber sich manche kaputt lachen konnten und womit sie sich stundenlang hätten beschäftigen können.

So lustig es auch manchmal war, musste man natürlich auch leider oft mit ansehen, wie schnell es plötzlich bergab gehen kann mit einem Menschen, wie sie immer kränker und schwächer werden. Und letztendlich sterben. Oder auch ganz plötzlich von einem Tag auf den nächsten tot sind, obwohl
sie eigentlich noch topfit sind. Vor allem einmal gab es bei mir in der Krankenstation der Frauen eine Zeit, wo quasi eine nach der anderen gestorben ist. Das nimmt einen dann doch mit.

Es war ein so unglaublich bereicherndes Jahr. Ich denke, einfach dadurch dass wir Freiwilligen mehr Zeit haben als die Mitarbeiter, konnten wir vielen Leuten eine kleine Freude bereiten, sie ein wenig aus diesem ewigen Nichtstun rausholen, ein bisschen ablenken. Natürlich haben wir nicht die Welt verändert, aber im Kleinen ein paar Menschen etwas Freude geschenkt. Und natürlich habe auch ich selbst viel gelernt und mich vermutlich auch weiterentwickelt.

Aber dazu kann ich, glaube ich, erst etwas sagen, wenn ich wieder in meinem „alten“ Leben in Deutschland zurück bin. Irgendwie verhält man sich hier einfach allgemein anders. Woran das genau liegt, weiß ich nicht.

Ich will unbedingt zurückkommen, eventuell auch noch Mal für einen längeren Zeitraum. Die ganzen Leute sind mir einfach so unheimlich ans Herz gewachsen: Omis und Opis, Kollegen und Freunde. Auch wenn ich etwas Bammel vor dem Abschied habe, freue ich mich wieder auf Deutschland. Auf meine Familie, Freunde, auf den nächsten Neuanfang in einer neuen Stadt zum Studieren. Es bleibt weiterhin spannend.

Das war also der Versuch meines Abschlussberichtes. Es ist nur ein klitzekleiner Bruchteil des spannenden und eindrucksvollen Jahres enthalten. Trotzdem hoffe ich, dass ich einen kleinen Einblick in meine peruanische Welt geben konnte.